Der Alte |
Unbeachtet betritt der Alte die Stadt. Ja, er ist alt, sehr alt, aber in Wirklichkeit ist er noch viel älter, als sich ein Beobachter vorstellen könnte. Seine Erscheinung ist gewöhnlich, schlicht, völlig unauffällig. Ein alter Mann, der, gebeugt vom Last der vielen Jahre, langsam seiner Wege geht. Doch der Alte ist gefährlich! Auf seinem Weg hinterläßt er eine Spur des Chaos, trennt die Stadt in den Teil, der zu sein scheint, und in den Teil, der gewesen ist.
Es sind die Augen des Alten. Sie sind klar und kalt. Sie haben Beginn und
Ende des Seins gesehen. In ihnen funkelt die Zeit, spiegeln sich die
Jahrtausende. Sie haben viele Menschen gesehen, Menschen von damals, von
heute und von morgen. Es trifft nicht jeden, denn der Alte sucht nicht, er läßt sich finden. Und nicht jedem passiert etwas. Die Maske von vielen zerbricht, doch das Tuch des Vergessens und Verdrängens ist schnell zur Hand und legt sich gnädig über offene Wunden. Nach kurzer Zeit des Entsetzens, der Erkenntnis und des Abwägens ist die Maske wieder da. Aber nicht bei allen!
Einige wenige können nicht vom Blick des Alten getroffen werden.
Bei manchen aber entzündet der Blick des Alten ein lohderndes Feuer tief im
Inneren, in der Seele. Es ist wie das Feuer des Teufels. Es nährt sich aus Angst, Zweifel, Haß und Einsamkeit, und seine Flammen verbrennen Kraft, Liebe und Leben in einer infernalen Orgie aus Vernichtung und Zerstörung.
Der Blick verklärt sich.
Von alleine erlischt das Feuer nicht, denn die Kräfte der dunklen Seite
sind unerschöpflich. Die innere Kraft des Brennenden muß die Wurzeln des
Dunklen beseitigen, um das Feuer zu ersticken.
Während des Kampfes brennt das Feuer weiter, vernichtet, zerstört. Immer
höher werden die Schäden, immer unersetzlicher die Verluste. Weiter geht der Alte seinen Weg durch die Stadt. Doch während weit hinter ihm das normale Leben wieder Einzug erhält, bleiben einige Stellen in der Stadt dunkel, im verzweifelten Kampf gegen das Feuer, das keiner sieht. Der Kampf ist nicht aussichtslos. Das Feuer erlischt, wenn die unsäglichen Quellen der dunklen Seite endlich zum Versiegen gebracht worden sind. Ohne Nahrung stirbt jedes Feuer. Doch die Zeit ist knapp. Ein Unentschieden gibt es nicht, nur Sieg oder Niederlage.
Langsam verläßt der Alte wieder die Stadt. Hinter ihm deutet kaum noch
etwas auf seinen Besuch hin. ©2020 Holger Thiele generiert aus "alte.template" vom 28 07 2001 |