Der Sturm |
Mühsam sorgte sich das alte Ehepaar um ihr Feld. Arm waren sie, und das
Feld war ihre einzige Habe, neben dem alten Haus, in welchem sie wohnten.
Schwer und anstrengend war das Bestellen des Feldes. Das Saatgut war teuer, und sie hatten viele Mühen auf sich nehmen müssen, denn die letzte Ernte war nicht so erfolgreich, wie es sich die beiden Alten gewünscht hätten. Von Früh bis Spät waren die beiden auf den Beinen, nachdem sich die Triebe aus dem schon recht ausgelaugten Boden hervorgeschoben hatten. Anfällig waren sie, das Wasser war knapp und der ausgemergelte Boden war wirklich kein Garant für eine gute Ernte. Oh ja, sie sorgten sich um ihre Pflanzen. Trotz des weiten Weges holten sie immer genug Wasser aus dem Fluß, und probierten gar erstaunliche Mittelchen, als wieder und wieder Krankheiten nach dem Leben der noch schwachen Pflanzen griffen. Die Arbeit war schwer, doch sie lohnte sich! Immer höher wuchsen die Pflanzen, immer stärker wurden sie. Ja, diesmal könnte es eine gute Ernte werden, freuten sich die beiden Alten. Bald waren die Pflanzen so stark, daß ihnen kaum noch etwas widerfahren konnte. Nur noch ein, zwei Wochen, und die ganze Arbeit hatte sich wirklich gelohnt, und die Alten konnten den Lohn für ihre Mühen in Empfang nehmen. Was sollte jetzt noch passieren? Die Pflanzen gediehen, die Sonne schien nicht mehr so stark, und das Wetter war mild. Froh standen die beiden Alten vor ihrem Haus. Zum ersten Mal seit einiger Zeit konnten sie sich wieder ausruhen. Eine sanfte Brise blies über das Land, am blauen Himmel trieben einige weiße Wolken entlang, die schon recht stattlichen Pflanzen reckten sich der Sonne entgegen.
Doch plötzlich verdunkelt sich der Himmel! Erschrocken blicken die Alten
nach oben. Wie kann das sein?
Ruhig ist es!
Die Alten fühlen, wie sich eine kalte Hand um ihre Herzen schließt.
Zitternd, mit pochenden Herzen blicken sie in die Ferne, nach dort, von wo
der kalte Wind kommt. Ein Blitz zerreißt die Dunkelheit. Gezackt wie die Schneide einer schweren Säge, frißt sich das gleißende Licht durch die düstere Luft und zerfetzt mit einem heftigen Prasseln einen Baum neben dem Feld. Kaltes Licht erhellt kurzzeitig die Dämmerung, ein Funkenregen zeugt vom Ende des Baumes, der danach in Flammen aufgeht, begleitet vom mörderischen Knall des Donners, der den Boden erschüttern läßt. In panischer Angst taumeln die beiden Alten, geblendet vom gleißenden Licht, taub vom krachenden Donner, zurück in ihr Haus, verrammeln die Tür, hocken sich unter den Tisch. Was nun? Was sollten sie tun? Draußen beginnt der Sturm.
Wie der Startschuß zu einem Rennen, scheint dieser Blitz die Urgewalten
entfesselt zu haben. Die Alten können es nicht fassen. Ihr Haus hält, ja kaum dringt Regen durch die Fenster. Gut, die Scheiben sind vom Donner zersprengt worden, aber nur ein scharfer Wind zischt durch die Öffnung. Nur das kalte Licht der Blitze malt gespenstische Bilder an die Wände, und der unerbittliche Donner wackelt an den Balken des Hauses. Die Urgewalten entladen sich über dem Feld, spielen mit den Halmen, wirbeln sie umher, reißen sie heraus, verbrennen sie, spülen sie weg. In diesem unwirklichen Inferno scheint nichts überstehen zu können. Urplötzlich verlöschen die Blitze. Der Sturm flaut ab, als hätte ihn jemand abgeschaltet, und die Wassermassen versiegen, als hätte jemand einen Hahn zugedreht. Die düsteren Wolken lösen sich im strahlenden Licht der Sonne auf, als wären sie Butter auf einer heißen Herdplatte. Als ob nichts geschehen wäre! Der Sturm ist vorbei, die Sonne scheint wieder, und eine warme, sanfte Brise weht über das Feld.
Doch, oh weh! Wie sieht das Feld nun aus!
Nun, nicht alles ist zerstört. Einige Büschel der Pflanzen stehen noch,
etwas verbogen, etwas zerzaust, aber sie haben den Urgewalten stand
gehalten.
Geschockt stehen die beiden Alten in der Tür ihres Hauses. Tränen laufen
über ihre Wangen. Nur ein paar Halme sind von ihrer Saat übriggeblieben.
Nur diese paar Halme! Wie sollen sie mit diesen paar Pflanzen genug Geld
für ihr Leben erhalten? ©2020 Holger Thiele generiert aus "sturm.template" vom 28 07 2001 |