Kerzen schimmern in der Nacht |
Langsam nähert sich der gebrechliche, alte Mann dem kleinen, unscheinbaren Grab. Es ist dunkel, spät in der Nacht, nur der fahl leuchtende Mond überschüttet den alten Friedhof mit einem gespenstischen Licht. Schlicht, sehr schlicht ist das Grab. Moosüberwachsen, ein kleiner Grabstein und ein Ewiges Licht, ein warmer Schimmer im Dunkel der Nacht.
Langsam kniet der alte Mann sich hin, ein Knie auf den Boden, die Hände auf das andere Knie, mit geschlossenen Augen. Weißes, schulterlanges Haar hat der Alte. Einen langen, bis zu den Füßen reichenden Mantel trägt er, der sich jetzt auf dem zu seinen Füßen sammelt. Dunkel ist seine Kleidung, so daß sein weißes Haar richtig im Mondschein glänzt. Leise ist es, sogar der Wind flaut ab, als ob er es nicht wagen wolle, den alten Mann zu stören. Ein Kreis ist in den Grabstein gemeißelt, einfach nur ein Kreis. Ein Kreis mit vier Punkten im Norden, Süden, Westen und Osten.
Wer mag hier in diesem Grab liegen? Die Mutter, der Vater, wer?
Der Himmel ist wolkenlos. Das fahle Licht des Mondes bescheint den alten Mann. Schlanke Finger hat er, aber alt und runzlig ist die Haut dort nicht. Überhaupt sieht der Alte recht rüstig aus. Man sieht ihm sein Alter nicht an.
Langsam erhebt der Mann seinen Kopf. Seine Hände gleiten herunter, er richtet den Oberkörper etwas auf, ohne aufzustehen. Unruhig beginnt die Kerze in dem alten Glasgefäß zu zucken. Der Besucher öffnet seine Augen und blickt auf das Grab. Seine Augen schimmern, das Licht der Kerze funkelt in seinen Augen. "Hallo, Bruder." sagt er mit leiser Stimme. Heftig flackert die Kerze. Trotz Windstille, trotz des Glasgefäßes, scheint um sie herum ein Sturm zu toben, der sie auszublasen droht.
Der Mann nickt. "Ja, wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen." Erstaunlich, die Augen des Knieenden. So jung blicken sie in die Welt, und doch spiegelt sich in ihnen Zeit und Ewigkeit wider. So viel Kraft liegt in ihnen, und doch auch viel Müdigkeit. So viel Stärke, und doch der Ruf nach Hilfe.
Der Mann lächelt. "Ja, ja, ich weiß, ich soll nicht über das Schlechte jammern, sondern mich über das Gute freuen.
Ein Kreis.
Stimmen durchdringen die Stille der Nacht. Drei oder vier Personen laufen über den Friedhof. Abgerissene Typen, in zerknitterter Kleidung, mit Flaschen alkoholischen Getränks in den Händen, suchen sie sich, nicht immer sehr gradlinig, den Weg über den Friedhof und stören mit ihrem unflätigen, niederen Gewäsch die Ruhe der Toten. Der vor dem Grab knieende Mann ignoriert den Lärm. Viel zu sehr ist er in die Zwiesprache mit seiner Vergangenheit vertieft, als daß die Flegel ihn stören könnten.
Immer näher kommen die Angetrunkenen. Irgendwann sehen sie den knieenden Mann vor dem Grab. Zuerst sind sie etwas verduzt, dann fangen sie an zu lachen.
Einer der Angetrunkenen tritt zu dem Knieenden und schlägt ihm hart auf die Schulter.
Der Mann zuckt zusammen. Die Kerze fällt in sich zusammen, geht aber nicht aus. Die Stimme hat einen beeindruckenden Klang, aber so etwas wirkt auf die Trunkenbolde nicht. Sie haben nicht nur bereits zuviel getrunken, sondern auch keine Achtung vor anderen.
Der Sprecher nimmt einen letzten Schluck aus seiner Flasche und meint dann mit böser Stimme: "Wie, willst Du Streit?"
In den Augen des alten Mannes blitzt es verdächtig. Er erhebt sich, schnell, aber nicht zu schnell, dreht sich um und macht einen Schritt auf den unsicher zurückweichenden Störenfried zu. Nun ja, oder vielleicht auch doch, denn, durch den Alkohol hemmungslos geworden, kommt der schlechte Charakter der Betrunkenen nur noch viel mehr zum Tragen, verschwindet das letzte bischen Respekt und Rücksichtnahme und wird zu Wut und Haß, zum Drang nach Zerstörung.
"Willst Du uns anmachen?" brüllt der rechts stehende Angetrunkene böse.
Und plötzlich hält dieser ein Messer in der Hand! "Hey, weg von meinem Kumpel!" schreit er. Haß funkelt in seinen Augen, Haß schwingt in mit seiner Stimme. Der Mann mit dem Amulett, der sich so auf den rechts neben ihm Stehenden konzentriert hat, kann nicht so schnell reagieren. Ein häßlich knirschendes Geräusch läßt alle anderen Geräusche verstummen. Ein Ruck geht durch den Körper des Alten. Seine Brust drückt sich nach vorne, sein Kopf drückt sich nach hinten in den Nacken. Kein Ton kommt über sein Lippen, aber sein Gesicht verzerrt sich vor Schmerz. Grell bäumt sich die Kerze auf. Ihr Schein erleuchtet den Grabstein, doch kurz darauf fällt die Flamme in sich zusammen und flackert nur noch ganz schwach.
Der Messerstecher ist einen Schritt zurückgetreten. Das Messer steckt noch im Rücken des schwer verletzten Mannes.
Der Verwundete fällt auf die Knie. Ein schmerzhaftes Stöhnen kommt über seine Lippen.
Der eine Angetrunkene blickt auf den am Boden liegenden Mann hinab. Der Schrecken verfliegt, Bedauern aber stellt sich nicht ein. "Ich dachte, er will Dich anmachen!" verteidigt dieser sich. Der andere winkt ab. "Super. Los, laß uns abhauen." Ein anderer mischt sich ein: "Lebt er noch?" "Was weiß ich. Hauptsache weg, oder willst Du die Polente rufen?"
Im hellen Schein des Mondes färbt sich der Stoff rund um das Messer dunkel. "Was ist, wenn er durchkommt und uns beschreibt?" fragt jemand. Angst steigt in ihnen empor. Werden sie zur Rechenschaft gezogen? Wird man sie einsperren? "Dann müssen wir eben dafür sorgen, daß er nicht reden kann!" antwortet der Mann mit dem Messer mit böser Stimme. Er dreht den Körper des Mannes herum. Kraftlos fällt der Kopf zur Seite. Das Amulett schimmert auf der Brust des Mannes. Der Messerstecher wischt es zur Seite. Jedwede menschliche Regung ist von ihm abgefallen, als er ausholt und das blutbefleckte Messer in das Herz des Mannes stößt. Noch einmal geht ein Zucken durch den Körper des Mannes. Ein Stöhnen scheint über seine Lippen zu kommen, aber das geht unter im plötzlichen Donnergrollen. Die Kerze erlischt.
Die Verbrecher zucken zusammen. Wo kommt der Donner her?
"Laß uns hier verschwinden!" Der Messerstecher zieht sein Messer aus dem Herzen des Mannes heraus, dann steht er auf. Seine Kumpane wenden sich ab. Ein gewaltiger Donnerschlag rollt durch die Luft. Ohrenbetäubender Lärm erfüllt die Luft. Sekundenlang erstarren die üblen Gestalten.
Es ist recht dunkel geworden. Eine große Wolke hat sich fast komplett vor den Mond geschoben. Und ein Licht!
Ganz klein beginnt die Kerze wieder zu brennen! Mit einem klirrenden Geräusch zerplatzt der Glasbehälter!
Ein Blitz zerschneidet das Dunkel der Nacht.
Der Donner wirft das verbrecherische Pack um. Das Licht des Mondes trifft wieder auf die Erde. Die dunklen Wolken rasen über den Himmel. Immer und immer wieder verdecken sie teilweise den Mond, Licht und Dunkelheit streichen über den Friedhof, huschen über die Wegen, streicheln die Grabsteine. Ein Geflecht aus Licht überzieht den Körper des Toten. Wie kleine Blitze, die völlig unkontrolliert hin- und herhuschen, tauchen sie die Umgebung in ein gespenstisches Schimmern. Die bösen Männer sind aufgestanden, aber weglaufen können sie nicht mehr. Völlig fassungslos stehen sie da und starren auf das irrlichternde Netz, welches den toten Mann dort vor dem Grab bedeckt. Die Flamme flackert hoch, wirft einen blutroten Schimmer über das Grab. Die vier Punkte in dem eingemeißelten Kreis blitzen.
Die feinen Blitze werden schwächer. Der plötzlich die Augen öffnet!
Rot leuchten seine Augen, als er sich langsam erhebt! Das Erschrecken, das Entsetzen wirft die Störenfriede fast wieder um. Eine schreit auf, einer keucht, noch ein anderer hält die Hände ausgestreckt vor sich hin, als könne er den Eindruck so von sich fernhalten.
Der Blick der roten Augen zieht die Männer in ihren Bann. Und jetzt verschwindet auch der letzte bekannte Klang. "So, ihr habt Wind gesäht, und so werdet ihr den Sturm ernten!"
Der Alte hebt die Arme. Die Männer wollen weglaufen, doch sie können nicht. Er ballt die Hände.
Ein Schimmern huscht über seine Fäuste! Langsam läßt der Mann die Arme wieder sinken, bis sie schräg nach vorne zeigen. Das Licht wirft einen unheimlichen Schein auf die Umgebung, nur sein Gesicht liegt im Dunklen. Nur noch schwach schimmern seine Augen. Einen Ruf stößt er aus. In zwei dicken, zuckenden Blitzen springt das Leuchten von den Fäusten des Unheimlichen herunter in den Erdboden. Dunkel wird es wieder. Die Fäuste des Alten leuchten nicht mehr. Dafür leuchtet der Boden! Unheimlich sieht es aus. An zwei Stellen schimmert irgendwie der Boden. Beschreiben kann man es nicht, es sieht so aus, als ob zwei unheimlich starke, gebündelte Lichtquellen in der Erde vergraben wären, und nur ein schwacher Schein den Weg bis nach oben findet.
Und dann bewegen sie sich. Auf das Grab da links bewegt sich ein solcher Punkt zu. Das Schimmern nähert sich immer weiter der Grabstätte, bis es sie schließlich erreicht. Das Schimmern zerfasert, zerläuft in der Länge, bis es nicht mehr zu sehen ist. Auch die anderen Punkte suchen sich ihre Ziele. Ein paar liegen hinter den Angetrunkenen. Völlig fassungslos schauen sie den Punkten nach, wie sie an ihnen vorbeirauschen, wie sie Gräber suchen und finden. Bald sind alle leuchtenden Punkte verschwunden.
Der Wind verstummt. Unheimliche Stille erfüllt die Luft.
Da, ein Knistern!
Dort, von den Gräbern kommen die Geräusche! Skelette graben sich aus der Erde empor, Halbverweste mit zerrissenen Totenhemden steigen aus den verwüsteten Gräbern heraus. Unheimlich sind sie anzusehen, unheimlich erscheint die Kraft, die ihnen Leben einhaucht.
Leben! Unbeschreiblich sind die Gestalten, die sich da auf die Angetrunkenen zubewegen. Ein Skelett wäre ja vom Anblicke her ja noch harmlos, aber so, diese halbverwesten Leichen, vielleicht ein Knochenarm, noch pergamentartig gespannte Haut über dem Brustkorb, zerfasertes Fleisch, herausfallende Maden. Augen hat keine der Gestalten mehr, doch sehen sie. Oder etwas führt sie, denn zielstrebig bewegen sie sich auf die Angetrunkenen zu.
Der Bann bricht.
Der eine tapert nach vorne, der andere zur Seite. Die Männer driften auseinander, völlig hilflos, völlig orientierungslos.
Ach, wie lächerlich ist doch dieser Versuch! Ja, brutal schlägt er die halb zersplitterte Flasche durch das Gesicht des Toten, doch mit was für einem Ergebnis?
Nur einer der Störenfriede beobachtet fassungslos, wie sein Kumpane durch die mörderisch zupackende Hand des Toten stirbt, wie sein Hals .... Gehetzt blickt der Messerstecher um sich. Immer noch hält er das blutbefleckte Messer in der Hand, und er sieht, wie die anderen sterben. Der Mann hat nicht mehr den Mut, einen Ausbruch zu wagen. Er steht da, das Messer erhoben, und wartet auf die wandelnden Toten. Ein Zischen läßt ihn herumfahren. Einer der Toten steht vor ihm.
Irgendwie tritt Ruhe ein.
Der Messerstecher blickt in das noch mehr oder weniger gut erhaltene Gesicht des Toten. Ob nun wirklich der Vater des Messerstechers, oder der beginnende Wahnsinn, das kann niemand sagen.
Der Tote hebt die Hand. Der Messerstecher sieht es nicht. Er merkt es erst, als die knöchrige Hand sich mit enormer Gewalt in seinen Brustkorb bohrt.
Während der ganzen Zeit über stand der Alte dort vor dem Grab, so, wie er da stand, als die Blitze aus seinen Fäusten in die Erde geschossen sind. Immer noch so steht er da, doch sein Gesicht ist um Ewigkeiten gealtert. Die Flamme auf dem Grab erlischt, und mit ihr der letzte rote Schimmer in den Augen des Mannes. Die Toten bewegen sich nun wieder zu ihren Gräbern. Die Leichen werden mitgeschleppt, und irgendwie schaffen es diese Gestalten, mitsamt ihnen im Boden zu verschwinden. Bald zeugt nur noch die aufgewühlte Erde von den unglaublichen Geschehnissen dieser Nacht.
Nur ein Toter steht noch da. Und er greift nach der Hand des uralten Mannes.
Der Himmel ist wieder wolkenfrei. Und hier und da schimmern Kerzen in der Nacht. ©2020 Holger Thiele generiert aus "kerzen.template" vom 28 07 2001 |