Das Gesetz |
In einer kleinen, fernen Stadt richtete ein Richter über Taten und Untaten
der Einwohner. Er war eigentlich ein guter Richter: Streng, aber
immer fair, immer darauf bedacht, die Angelegenheiten aus verschiedenen
Blickwinkeln zu betrachten, um zu einem guten Urteil zu kommen.
Das Gesetz war gut. Es war von vielen schlauen Frauen und Männern
geschrieben worden, es enthielt deren Wissen und Vorstellungen.
Aber das Gesetz war alt.
Es stammte aus der Zeit der Unruhen, aus der Zeit der 4. Kolonie, und
damals waren die Umstände anders als heute. Vorsicht war angesagt, strenge
Regeln und Gebote. Das mußte so sein. Aber die Zeiten änderten sich. Der Richter hatte Angst davor, das Gesetz zu ändern. Er sah selbst, daß es Fälle auf seinem Richtertisch gab, zu denen er in dem Buch keine Lösung fand, und er sah auch, daß in anderen Fällen die Schreiber des Buches vermutlich andere Gründe im Sinne hatten als sie jetzt vonnöten gewesen wären.
Bei völlig neuen Fällen wurde der Richter unsicher. Immer dann, wenn nichts
im Buch zu finden war, dann zog er sich zurück und überlegte. In Fällen aber, die sich irgendwie auf das Gesetz beziehen ließen, ja da konnte der Richter nicht anders. So offensichtlich es auch war, daß die Autoren des Gesetzes andere Dinge im Kopf gehabt hatten, Gesetz ist Gesetz! Und so wand er das Gesetz an, derweilen zum Verdruß der Bevölkerung.
Aber was sollte er tun? Oh weh, welche Zwickmühle! Der Richter sah, wie die Leute immer öfter an seinen Urteilen zweifelten. Ja, er wußte, daß sie in ihm einen fairen, guten Richter sahen, aber er wußte auch, daß sie das Gesetz für alt und schlecht hielten.
"Sein" Gesetz! Alt und schlecht! Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Denn irgendwann verloren die Bewohner der Stadt den Glauben an Recht und Gesetz! Für den Richter brach eine Welt zusammen. Er sah, wie sich das Chaos in der Stadt ausbreitete. Das Gesetz galt nichts mehr. Manche hielten sich noch daran, manche hielten sich an andere Gesetze, manche an gar nichts mehr. Und die Stadt steuerte geradewegs auf einen Abgrund zu. Die Besucher flüchteten, die Menschen in den Städten der Umgebung schauten furchtsam zu. Versuche zu helfen schienen nichts zu nützen, das Chaos schien die Vernunft zu besiegen.
Der Richter versank in Apathie. Ihm zugetragene Katastrophenmeldungen nahm
er zur Kenntnis, während er immer tiefer sank. Lange Zeit saß er so da. Sein Blick wirkte stumpf und leblos. Niedergeschlagen verließen die Berater den Raum des Richters. Verloren schien der Kampf um den Richter, und verloren schien der Kampf um die Stadt, die sich langsam dem Untergang entgegenreckte.
Doch plötzlich wurde die Tür des Richterzimmers aufgestoßen. "Nein!" Entschlossen beauftragt er seine Mitarbeiter, den Rat der Stadt zusammenzurufen. Nein, noch war nicht alles zu spät. Spät, aber nicht zu spät. Und so überarbeiteten sie das Gesetz!
Viel Zeit blieb nun nicht mehr, aber die schlauen Frauen und Männer des
Rates hatten ja schon einige Zeit lang versucht, neue Gesetze
durchzubringen. Sie hatten die Menschen beobachtet, versucht, die
Gegebenheiten zu erkennen.
Es dauerte einige Zeit, aber dann war das neue Gesetz fertig. Doch was nun?
Noch immer herrschte Chaos in der Stadt. Der Richter trat vor die Menschen. Und er sprach zu ihnen. Vielleicht waren es die Worte des Richters, vielleicht waren es die Wünsche der Bürger, vielleicht war es das Wissen um das Chaos, vielleicht war es auch noch etwas anderes. Aber die Worte des Richters fielen auf fruchtbaren Boden.
Das Volk der Stadt stimmte dem neuen Gesetz zu.
Vieles war geändert worden, etliches ganz verschwunden, manches
dazugekommen.
So schien es, daß der Richter nun mehr Zeit für sich selbst haben würde.
Nicht das Leben für das Gesetz, nein, das Leben für sich selbst hatte nun
die Möglichkeit, das Ziel für den Richter zu werden.
Langsam kehrte wieder Ruhe ein in die Stadt. Auch die Besucher der Stadt
und die Menschen des Umlandes sahen, daß sich die Lage zu bessern schien.
Waren ihre Versuche doch erfolgreich? ©2020 Holger Thiele generiert aus "gesetz.template" vom 08 10 2001 |