Die anderen zwei Brüder (Die zwei Brüder 2) |
Zwei Brüder stehen in der Dämmerung und bekämpfen sich. Mal liegt einer am
Boden, doch besiegen läßt er sich nicht, mal ist einer oben auf, doch siegen
kann er nicht. Ihr Kampf wird endlos weitergehen, denn wenn einer verliert, verliert auch der andere. Einen Sieger gibt es nicht. Bis zum Ende ihrer Tage werden sie dort stehen, und bis zum Ende ihrer Tage werden sie sich bekämpfen. Ist das das Schicksal der beiden Brüder? Kämpfen, kämpfen, gegeneinander kämpfen. Ja, das ist der Zweck der Existenz der beiden Brüder. Mißtrauisch beobachten sie sich, denn wenn der einen einen Vorteil ergattert, so ist das ein Zeichen für den anderen, ihm diesen wieder abzujagen.
Schwer ist der Kampf, aber schwer war er immer gewesen. Hart ist der Kampf,
doch schon immer haben sie mit harten Bandagen gekämpft. Und persönlich
nehmen sie den Kampf, doch das war schon immer so gewesen. Persönlich?
Was für ein Wort.
Sie blicken sich um. Die Dämmerung verbirgt viel, doch jetzt, wo sie gerade
nicht kämpfen, wo sie ihren Blick in die düstere Ferne richten können, da
sehen sie schemenhaft noch andere Berge, noch mehr Bergspitzen. Sie sind nicht die einzigen! Es gibt noch andere Brüder! Wie viele mögen das sein? Wofür mögen sie kämpfen? Oder kämpfen sie vielleicht nicht?
In diesem Augenblick brennt sich die Erkenntnis wie ein Blitz in die
verschlossenen Seelen der beidern Brüder. Haß flammt in den beiden Brüdern auf, unbändiger Haß auf den jeweils anderen Bruder, Haß auf sich selbst, Haß auf den Kampf. Wie sie sich hassen, wie sie ihren Kampf hassen!
Aus dem Kampf wird Krieg!
Die beiden stürzen sich aufeinander. In blinder Wut fallen sie übereinander
her, beseelt von Haß und dem Wunsch nach Tod und Zerstörung. Die prasselnden Flammen erhellt die Dämmerung rund um die Bergspitze. Schön sehen sie aus, die Flammen, wie sie sich in den Himmel recken, wie sie die Dämmerung erhellen, wie sie ein Gemälde aus Feuer an den Himmel malen, wie sie die Wolken beleuchten, die im aufkommenden Sturm herumziehen.
Schön und gefährlich! Ja, dieser Kampf wird der letzte sein! Dieser Kampf geschieht nicht aus Überzeugung, sondern nährt sich aus Haß. Wild prügeln die beiden Brüder aufeinander ein, schmettern sich gegenseitig zu Boden, versuchen den jeweils anderen zu vernichten.
Sie hassen sich, sie hassen ihren Kampf! Was haben sie getan? Wie viele
Versuche, wie viele Chancen, wie viele Gelegenheiten haben sie durch ihren
Kampf verworfen, verpaßt, vergeben? Wie viele Vorteile ihres Bruders haben
sie durch ihren Kampf vertan? Der Rand der Felsspitze zerbröckelt, Brocken poltern in die Tiefe. Das lohdernde Feuer zerstört den Stein, und bald wird die ganze Spitze in die Tiefe stürzen und das Schicksal der beiden Brüder endgültig besiegeln.
Unkontrolliert, wild und gefühllos schlagen die beiden aufeinander ein. Sie
spüren den Schmerz, doch können sie ihn nicht begreifen. Und Tod auch sich selbst. Das Feuer wird stärker, versengt die Haut der beiden Brüder. Doch nur noch schlimmer wird ihre Wut, nur noch schlimmer wird ihr Krieg. Das Ende ist nah, die Zeit ist verstrichen, die Chance der beiden Brüder ist für immer vertan. Vertan! Vertan! Das Wort brennt wie Feuer in den Herzen der beiden, und es brennt stärker als der Haß.
Die beiden Brüder halten inne. Das böse Funkeln verschwindet aus ihren
Augen, und sie sehen sich, gräßlich mißhandelt, zerschunden, direkt an der
Schwelle des Todes. Langsam stirbt das Feuer um die beiden Brüder. Immer kleiner wird es, immer schwächer wird die Hitze. Die Dämmerung kehrt zurück und umhüllt die Bergspitze wieder.
Ein kühler Wind streicht über die Wunden der beiden Brüder. Die Dämmerung erhellt sich um die Bergspitze der beiden Brüder. Wie der Schein der Sone durch ein Wolkenloch umspielt ein weiches Licht die Spitze, deren Ränder fast völlig zerstört sind. Beinahe, ja beinahe wäre ihre Zeit wirklich gekommen, beinahe hätten sie ihren Krieg zu Ende geführt. Nur hat ein Krieg keinen wahren Sieger, und so hätte es auch keinen Sieger unter den beiden Brüdern gegeben.
Die beiden schauen sich an. Sie kennen sich, nur diesmal verwenden sie ihr
Wissen nicht, um den anderen zu schaden. Zwei Brüder stehen gemeinsam im sanften Licht auf einer Bergspitze. Gemeinsam blicken sie in die unbekannte Ferne.
Brüder haben Konflikte, Brüder tragen Konflikte aus, Brüder helfen einander
bei Konflikten.
Zwei Brüder stehen gemeinsam im sanften Licht auf einer Bergspitze. Viel
liegt vor ihnen, viele Aufgaben sind zu bewältigen. Doch zusammen geht
alles viel schneller, zusammen können sie es schaffen. Die beiden fassen sich an den Händen. Keiner kann ohne den anderen, und keiner wollte mit dem anderen. Doch an der Schwelle des Todes fallen die letzten Schranken, fallen die letzten Hüllen, zeigen sich die letzten Wahrheiten, zeigt sich die letzte, winzig kleine Chance.
Zwei Brüder stehen gemeinsam im sanften Licht auf einer Bergspitze. Viel
liegt vor ihnen, viele Aufgaben sind zu bewältigen. ©2020 Holger Thiele generiert aus "brueder2.template" vom 28 07 2001 |