Laß uns fliegen |
Schwer atmend sinkt der alte Mann in seinen Lehnstuhl. Ja, alt, das war er. Das Gute und das Böse von vielen, vielen Jahrzehnten lastet auf seinen Schultern. Wie viele Menschen schon hat er leben und sterben sehen? Wie oft schon sind Freunde gekommen und gegangen?
Seine trüben Augen blicken auf den Käfig mit seinem Vogel. Den hat er als
Kind schon bekommen, als nestjunges Vögelchen. Und er ist zu einem
Begleiter auf seinem Weg durch sein Leben geworden. Heute tobt der Vogel nicht mehr. Auch er ist müde geworden. Der alte Mann denkt an früher. Immer, wenn er so im Sessel sitzt und den Vogel beobachtet, denkt er an drüher, kommen Erinnerungen, Bilder und Träume von damals. Ja, in der Erinnerung ist alles schöner.
Mühsam beugt der alte Mann sich vor, öffnet den Käfig und holt den erfreut
krächzenden Vogel heraus. Doch heute ist etwas anders. Vorsichtig krault der alte Mann mit zitternden Fingern das Brustgefieder des Vogels. "Laß uns fliegen!" sagt der alte Mann. Und sie fliegen los, durch das offene Fenster hinaus aus dem alten, staubigen Zimmer, hinein in das schimmernde Licht des Tages. Immer weiter fliegen sie, aus der lärmenden Stadt hinaus auf das freie Land.
Fast wie von selbst gleiten die beiden durch die warme Luft. Es ist still,
nur die Luft pfeift ein wenig an den Ohren.
Vorbei an der Wiese, fliegen die beiden über den großen, alten Wald. Unter
ihnen huschen die Baumwipfel vorbei, lassen lichte Stellen hinein in das
schummerige Grünbraun des Waldes blicken.
Als die beiden wieder aus dem Wald herauskommen, empfängt sie wieder das
helle Licht des Tages. Unter ihnen irrlichtert das warme Licht der Sonne in
der nur leicht vom Wind bewegten Oberfläche des großen Sees. Immer weiter fliegen die beiden. Unter ihnen steigt der Boden an, reckt sich die Erde hinauf in den Himmel. Immer höher werden die Berge, fliegen sie über weite, grüne Berghänge hinauf. Steil bricht der Boden unter ihnen weg. Sie fliegen hinein in die gigantische Leere des weiten Tales, welches die riesigen, steilen Berge voneinander trennt. Freiheit. Frieden. Ruhe. Ein unglaubliches Gefühl durchströmt den Körper des Mannes. Der Vogel neben ihm krächzt laut und fröhlich. Sie fliegen mit den Wolken um die Wette, hinein in die unendliche Weite, immer höher, immer weiter, der Sonne entgegen. Freiheit. Frieden. Ruhe. Am nächsten Tag findet die Putzfrau den alten Mann und den Vogel tot im Sessel. Tot, aber umgeben vom Eindruck von Frieden und Ruhe. ©2020 Holger Thiele generiert aus "fliegen.template" vom 28 07 2001 ![]() |