Wächter im Tal der verlorenen Wünsche |
Hallo! Schön, daß Sie hier einmal vorbeischauen! Ich bekomme sehr, sehr selten Besuch. Normalerweise verirrt sich niemand an diesen Ort. Ich darf mich vorstellen: Ich bin der Wächter hier im Tal der verlorenen Wünsche. Sie schauen etwas verwirrt? Gut, wenn Sie ein wenig Zeit haben, dann erzähle ich Ihnen ein wenig von mir.
Ich bin hier schon seit seit undenkbaren Zeiten. Seit ich denken kann,
wache ich hier über all die verlorenen Wünsche. Ich weiß nicht, ob es für
mich ein "Vorher" gab, oder ein "Hinterher" geben wird. Ich weiß noch nicht
einmal, ob ich überhaupt bin!
Ja, das hier ist ein trauriger Ort. Jeder der Wünsche dort unten im Tal
zeugt von einem Schicksalsschlag. Mal klein und unbedeutend, mal aber auch
groß und verhängnisvoll.
Wundern Sie sich nicht. Hier herrscht immer Zwielicht. Schlecht zu sehen,
das ist hier von Vorteil, brechen doch die vielen Schicksale nicht so über
Sie hinein. Kommen Sie weiter. Hier oben, in meinem Haus, da gibt es nichts interessantes zu sehen. Hier, diesen Weg müssen wir hinunter.
Sie zittern? Nein, die Kälte ist es nicht. Hier gibt es weder Wärme noch
Kälte. Hier gibt es gar nichts. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es
hier noch nicht einmal Luft gibt!
Aber genug von mir, dort sehen Sie schon ein paar Wünsche. Hier, nehmen wir gleich einmal den ersten. Es ist nur eine Kleinigkeit. Sehen Sie den Menschen in der Scheibe schimmern? Ein kleines Kind, es wollte so gerne einen Lolli von ihrer Mutter beim Einkaufen haben. Sehen Sie, wie die Mutter ablehnt. Sehen Sie, wie das Kind anfängt zu weinen? Ja, jetzt spüren Sie auch die Traurigkeit, die in dieser Scheibe steckt? Keine Angst, es ist schnell vorbei. Sehen Sie, das Bild verblaßt. Ich sagte ja, eine Kleinigkeit. Die Mutter wird es nicht böse gemeint haben. Aber so ein Schicksal ist immer subjektiv. Ob richtig oder falsch, sinnig oder unsinnig, für das Kind war es ein verlorenen Wunsch, und so ist er hier gelandet.
Lassen Sie uns weitergehen. Schauen Sie hier. Der Wunsch nach guter Beute. Essen. Vor mehr als 10000 Jahren Ihrer Zeit. Damals waren die Gedanken noch einfacher, primitiver. Gefühle reichten nicht sehr weit. Dennoch, auch damals gab es verlorene Wünsche, und ich habe sie alle gesehen.
Vorsicht, passen Sie auf. Rutschen Sie nicht aus, sonst fallen Sie
wohlmöglich in die Scheiben hinein.
Schauen Sie hier, diese Scheibe. Der Wunsch nach Selbstverwirklichung.
Sehen Sie die Bilder der Hoffnung? Die Versuche, und die Rückschläge? Bis
der Wunsch in der Hoffnungslosigkeit untergegangen ist!
Weinen Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist. Sie brauchen sich nicht zu
schämen. Ich, ich kann leider nicht mehr weinen.
Hier, hier ist auch eine schöne Scheibe. Oh, entschuldigen Sie bitte meinen
Sarkasmus, ich meine es nicht böse. Schauen Sie sich um. Unendlich viele vergessene Wünsche! So wie diese Scheibe hier, gibt es noch viele, viele weitere. Gleich dort drüben, dort, und dort auch. Kaum jemand der Lebenden weiß um die verlorenen Wünsche der anderen. Keiner dieser Wünsche ist im Strom der Zeit von Bedeutung. Vermutlich landen sie deswegen hier. Oder dies ist der Grund, warum sie keine Bedeutung haben. Vermutlich muß es so sein.
Sie fragen ob es auch ein Tal der erfüllten Wünsche gibt? Oh, das weiß ich
nicht. Ich glaube aber nicht. Wie meinen Sie? Zeit? Nein, ich weiß auch nicht genau, was die Zeit ist. Ja, eigentlich sollte ich es wissen, nicht wahr? Ich bin ein Teil der Zeit. Na ja, Sie eigentlich auch. Gut, ich habe vor Ihnen gelebt, und werde nach Ihnen immer noch leben. Vielleicht, ich weiß es nicht. Zeit - nein, die Zeit besteht am Allerwenigsten aus Minuten und Sekunden. Was meinen Sie, wie lange Sie schon hier sind? Und schauen Sie nicht auf Ihre Uhr, diese kann Ihnen hier nicht helfen.
Sehen Sie diese Scheibe hier. Auch ein tragischer Fall. Ein Ehepaar,
verheiratet, über lange Zeit. Ob die Heirat nun gut war oder nicht, wer
weiß. Aber im Laufe der Zeit wurde die Bindung zum Gewohnheit. Nicht zum
Alltag, sondern zur Gewohnheit ohne festen Sinn. Und sie haben es nicht
gemerkt! Gut, Sie fühlen hier wenig Schmerz, aber Sie vermissen hier auch
die Freude! Nein, die Scheiben sind immer gleich groß. Hier sind alle verlorenen Wünsche gleich bedeutend. Oder unbedeutend. Erst, wenn Sie eine Scheibe betrachten, können Sie die Größe erahnen. Aber passen Sie auf, daß Sie sich nicht in einer solchen Scheibe verlieren. Ansonsten widerfährt Ihnen das gleiche Leid! Wie, Sie denken immer noch darüber nach, wie lange Sie nun schon hier sind? Oh, ich kann Ihnen da auch keine Antwort drauf geben. Es gibt keine Antwort, falls Sie das noch nicht gemerkt haben sollten. Hier liegen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander. Ihre Zeit hat hier keine Bedeutung. Es spielt keinen Unterschied, ob Sie nun fünf Sekunden oder fünf Jahre hier sind. Aufräumen? Nein, das hat keinen Sinn. Die Scheiben liegen hier herum, dabei bleibt es. Wie sollte ich die ordnen? Und für wen?
Hier, eine besonders traurige Scheibe. Wird sie für Sie jedenfalls sein,
nehme ich an.
Was ist los mit Ihnen? Sie sind so weiß, Ihnen läuft der Schweiß über die
Stirn. Warten Sie, ich lege die Scheibe zur Seite. Ja ja, es ist, als ob es jetzt passieren würde. Wann es passiert ist? Wer weiß. Gestern, vor 86 Jahren oder im nächsten Jahrhundert. Im Grunde passiert es dann, wenn Sie sich die Scheibe anschauen. Dann sind Sie dort!
Kommen Sie, gehen wir etwa dort herüber. Auf Wiedersehen. ©2020 Holger Thiele generiert aus "waechter.template" vom 28 07 2001 |