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Inmitten der dunklen Nacht steht der einsame Wanderer und sucht nach seinem
Weg. Viel schon hat er gesehen, viel schon hat er geliebt, viel schon hat
er gehaßt. Aber sein Ziel hat er noch nicht gefunden, das liegt irgendwo
hinter dem Horizont.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht blitzen und funkeln einige Lichter am Horizont.
Sie zeigen den Weg, sie laden ein, sie versprechen Wärme. Dorthin zieht es
den Wanderer, irgendwo dorthin, weg aus der Dunkelheit, hin ins Licht. Weg
aus der Kühle, hin in die Wärme.
Doch wo soll er hin? Schon viele Leute hat er auf seinem Weg getroffen.
Viele hat er nie wieder gesehen, andere laufen ihm immer wieder über den
Weg, auch auf der Suche. Doch alle sehen andere Lichter, sehen andere
Ziele, nehmen andere Wege. Denn Licht ist nicht gleich Licht, Weg ist nicht
gleich Weg, Ziel ist nicht gleich Ziel.
Einsam ist der Wanderer, einsam inmitten der anderen Wanderer. Einige wird
er wiedersehen, auf dem Weg, an den Lichtern, am Ziel. Manche werden ihn
eine Zeit begleiten. Doch Licht ist nicht gleich Licht, Weg ist nicht
gleich Weg, Ziel ist nicht gleich Ziel. Auf ihren Wegen irren die Wanderer
umher, hoffen auf Hilfe, wohl wissend, daß die letzten Entscheidungen immer
nur von ihnen alleine getroffen werden können.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht leuchtet ein warmes Licht.
Wärme, Frieden, Ruhe.
Ist da das Ende des Weges? Das Licht leuchtet so warm und heimelig. Doch
was wird sich dort finden? Wieder nur ein Wegposten, wieder nur ein kurzer
Aufenthalt, bis es wieder in das Dunkel der Nacht zurück geht?
Wegposten. Ach, wie liebt und fürchtet der Wanderer die Wegposten. Friedlich
und warm ist es dort, bequem, aber kein Ziel. Doch es kostet Überwindung,
sich wieder loszureißen, wieder aufzubrechen in die feuchte Kühle der Nacht.
Aber auf dem Weg zu seinem Ziel wird der Wanderer noch an vielen Wegposten
vorbeikommen. Ohne diese Wegposten wäre der Weg kalt, eiskalt, ohne Freude.
Doch es ist immer wieder schwer, weiterzugehen.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht strahlt ein helles Licht.
Einladend sieht es aus, ruft den Wanderer. Möglicherweise ist das ja sein Ziel,
möglicherweise ist das das Ende des langen Weges?
Doch das Gelände ist schwer, der Weg durch die Dunkelheit zu diesem Licht
führt durch beschwerliches Gebiet.
Was ist, wenn das Licht verschwindet? Kann dann der Wanderer noch aus dem
unübersichtlichen Gelände herausfinden?
Was ist, wenn das Licht nur ein kalter Schein ist? Wenn am Ende dieses
Weges kalter Fels ist? Besitzt der Wanderer dann noch die Kraft, wieder
zurückzukehren?
Was ist, wenn das Licht wirklich das Ziel des Wanderers ist, und dieser
doch die Mühen scheut? Wer weiß, ob noch woanders ein Ziel auf ihn wartet,
Wer weiß, ob er dann nicht für immer hinter einem Ziel hinterherläuft,
welches er schon vor langer Zeit hinter sich gelassen hat.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht glitzert ein wunderschönes Licht.
Es strahlt und funkelt am Horizont, sein Schein spiegelt sich im Wasser des
Meeres.
Ja, weit, weit weg ist dieses Licht. Unerreichbar, oder vielleicht auch
nicht. Der Weg führt aufs Meer, führt hinein ins Unbekannte. Soll der
Wanderer es wagen, den sicheren Boden zu verlassen und sich mit einem
kleinen Boot auf den Weg zu machen?
Was mag das für ein Licht sein? Träumend steht der Wanderer da. Das Licht
kommt ihm bekannt vor, doch vielleicht trügen ihn seine Erinnerungen. Das
Licht kommt ihm freundlich vor, doch vielleicht trügen ihn seine Gefühle.
Das Licht kommt ihm erreichbar vor, doch vielleicht trügen ihn seine
Kräfte.
Fährt er los, erreicht er vielleicht sein Ziel. Fährt er los, geht er
vielleicht unter. Fährt er los, kommt er vielleicht nicht mehr zurück.
Fährt er nicht, so bleibt ihm nur sein Traum.
Doch ein Traum ist nur wie ein Bild: Schön anzusehen, aber flach, kühl,
und die Farben verblassen mit der Zeit.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht blitzen und funkeln viele Lichter am Horizont.
Manche von ihnen sind mehr Schein als Sein, manche von ihnen locken den
Wanderer in sein Verderben, manche von ihnen überstrahlen die wirklich
wichtigen Lichter am Horizont. Denn nicht die Helligkeit der Lichter ist
entscheidend, sondern die Ausstrahlung des Lichtes.
Ach, könnte man den Lichtern doch aus der Ferne ansehen, was sich hinter
ihnen verbirgt! Ja, bei manchen klappt das, bei manchen kann der Wanderer
die Wärme hinter dem Licht erkennen, bei manchen kann der Wanderer die
Kälte hinter dem Licht erkennen. Doch was ist, wenn der Wanderer sein
Licht übersieht?
Lichter am Horizont.
Bald wird der Tag sich nähern, wird das Licht der Sonne die Lichter der
Nacht verlöschen. Dann kann der Wanderer seine Umgebung sehen, aber die
Zeichen am Horizont werden verschwinden. Hoffentlich ist der Wanderer nahe
genug an einem Licht, daß er den Rest des Weges ohne Wegweiser zurücklegen
kann. Sicher, es wird wieder Nacht, die Lichter kommen wieder.
Aber nicht alle.
Manche verlöschen irgendwann. Neue tauchen auf, aber alte verschwinden
vielleicht für immer.
Lichter am Horizont.
Inmitten der dunklen Nacht steht der Wanderer in der Einsamkeit. Er denkt an
seinen bisherigen Weg, an seine bisherigen Lichter. Er denkt an seinen
zukünftigen Weg, an die Lichter, die er finden möchte.
Er hebt den Kopf. Soll ein vielleicht immer ein vielleicht bleiben?
Sein Blick richtet sich auf einen Punkt!
Ein Licht am Horizont.
23.3.97
©2020 Holger Thiele
generiert aus "lichter.template" vom 28 07 2001
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